#52Wochen52Menschen: KW52 – Matthias  Thurau – Tag 4

#52Wochen52Menschen: KW52 – Matthias Thurau – Tag 4

Februar 6, 2022 0 Von jenlovetoread

Du und dein Charaktere

Es ist interessant, dass so viele Autor*innen die Entwicklung ihrer Figuren beim Aussehen beginnen. Sie suchen sich Fotos von Personen, die ähnlich aussehen, gucken nach Kleidungsstilen und passenden Accessoires. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie meine Figuren aussehen. Das könnte damit zusammenhängen, dass ich mir nur sehr schwer Gesichter merken kann und Menschen generell häufig übersehe. Gehe ich mit jemandem spazieren, kommt es häufig vor, dass ich auf eine Person hingewiesen werde, die in meinem Sichtfeld gewesen ist und die ich überhaupt nicht registriert habe. Auch kann ich Menschen, die sich entfernt ähneln und die ich nicht persönlich kenne (z.B. Schauspieler*innen), häufig nicht auseinanderhalten. Lediglich manche Details, die die Charakterisierung der Figuren unterstützen, gehören bei mir zur Planung des Äußeren der Figuren. Liest man meine Geschichten aufmerksam, so wird man kaum Beschreibungen von Gesichtern, Größe, Haarfarbe, Kleidung und anderen Äußerlichkeiten finden. Es freut mich gerade deshalb immer wieder, wenn Leser*innen mir sagen, dass sie die Figuren beim Lesen lebendig vor sich sehen.

Die Wahrheit ist aber, dass meine Figuren Funktionen der Geschichten sind. Meine Vision der Geschichte und ihrer Aussage oder ihres Kerns ist entscheidend, und die Figuren dienen der Vision. Da die Geschichten entsprechend nicht mehr die Figuren im Zentrum haben, auch wenn das beim Lesen so wirken mag, bedeutet das, dass ich ein ganz anderes Schreiberlebnis habe als viele andere Autor*innen. Dass Figuren tun, was sie wollen, und sich dadurch die geplante Handlung ändert, kommt bei mir nicht vor. Manchmal, wenn ich es zulasse, trägt mich ein nur teilweise konzipierter Plot irgendwohin, wohin ich nicht zu kommen geplant hatte. Aber näher komme ich an das beschriebene Phänomen sich verselbstständigender Figuren nicht heran.

Namen sind Funktionen der Figuren, die wiederum Funktion der Geschichten sind. Nur selten wähle ich einen Namen frei aus Sympathie- oder anderen Gründen. Wenn ich weiß, wie alt eine Figur ist, suche ich nach den beliebtesten Vornamen aus dem entsprechenden Jahrgang. Aus dieser Liste, sofern es passt, wähle ich dann einen Namen aus, den man mit dem Alter der Figur und einigen ihrer Charaktereigenschaften assoziieren würde. Ein Horst ist kein Kevin, ein Ferdinand kein Jeremy. Dass meine Assoziationen nicht diejenigen der Leser*innen sein müssen, ist natürlich klar. Trotzdem versuche ich den richtigen Ton zu treffen.

Manchmal wähle ich Namen aber auch nach einer tieferen Bedeutung aus. Das geht beispielsweise über Bezüge zur Literatur oder Mythologie, die Herkunft von Namen (Matthias beispielsweise kommt aus dem Hebräischen und bedeutet so etwas wie „Geschenk Gottes“) oder bei klingenden Namen (normalerweise bei Nachnamen). Mein liebstes Beispiel dafür ist die Figur Arsonovicz. Würde ich aber den Namen erklären und den Grund für diese Wahl, würde ich die Handlung des Romans Sorck massiv spoilern. In einem Blogeintrag (LINK) habe ich das dennoch getan. Wer das nachlesen möchte, kann es dort tun.

In wenigen Fällen suche ich einen Namen rein nach dem Klang und der Assoziation aus. In der neuen Anthologie Compendium Obscuritatis von Nikas Erben sind zwei Geschichten von mir, und in einer heißt die Figur Pippo, weil der Name freundlich, fast niedlich und sympathisch klingt.

Ich kann mir vorstellen, dass manch eine*r meine Vorgehensweise langweilig findet. Das ändert aber nichts am Ergebnis. Dadurch, dass ich viel offen lasse, können Leser*innen mehr von sich in die Figuren legen, ihre eigenen Vorstellungen auf sie projizieren und letztendlich die Geschichten mitgestalten, während ich selbst wenig Ärger mit aufmüpfigen Figuren habe.


Hier ist Matthias zu finden: